Ratgeber: Lebensdauerprognose Frag den Schulz! Wie lange hält Leistungselektronik?

Von Martin Schulz *

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Es gibt strenge Forderungen zur Lebensdauer von Halbleitern. Je nach Branche werden 20 Jahre und mehr zuverlässiger Betrieb verlangt. Weil Leistungselektronik hohen thermomechanischen Belastungen ausgesetzt ist, unterliegt sie dem Verschleiß. Dr. Martin Schulz erklärt die Einflüsse und Möglichkeiten einer Lebensdauerprognose.

Dr. Martin Schulz ist Global Principal Application Engineer bei Littelfuse Europe.
Dr. Martin Schulz ist Global Principal Application Engineer bei Littelfuse Europe.
(Bild: Stefan Bausewein)

In der uns bekannten Mechanik des Maschinenbaus ist es offensichtlich, dass bewegliche Teile unter Reibung verschleißen und die Gegenmaßnahme ist ebenfalls klar: Schmierung. Eine Schmierung verringert die Reibung und damit den Verschleiß – sie verlängert die Lebensdauer. Auch Komponenten der Leistungselektronik unterliegen dem Verschleiß. Und der ist den thermomechanischen Prozessen geschuldet, die in jedem Chip stattfinden. Diese Prozesse bleiben dem Auge verborgen und dadurch stellen sich drei grundlegende Fragen:

  • Woran liegt es, dass Leistungshalbleiter in ihrer Lebensdauer begrenzt sind?
  • Was ist der größte Einflussfaktor?
  • Wie kommt man zu einer robusten Abschätzung, wie lange ein Halbleiter durchhält?

Die ersten beiden Fragen lassen sich mit Blick auf den Aufbau eines Leistungshalbleiters, wie er in Bild 1 gezeigt ist, leicht beantworten.

Bild 1: Typischer Schichtaufbau in der Leistungselektronik.
Bild 1: Typischer Schichtaufbau in der Leistungselektronik.
(Bild: Martin Schulz)

Dieser Aufbau besteht aus einer beidseitig mit Kupfer kaschierten Keramik, der sogenannten DCB.

Die DCB (Direct copper bonded) trägt auf ihrer strukturierten Oberseite den Halbleiter. Der Chip selbst ist aufgelötet und mittels Bonddrähten mit den umgebenden Strukturen verbunden. Dieser Aufbau wird, ebenfalls mittels Lötung, auf eine Bodenplatte aufgebracht, die bei kleineren Komponenten gegebenenfalls auch entfällt.

Im Bild 1 ist dargestellt, wie die Wärme, die der Chip erzeugt, über die sich ergebenden thermischen Widerstände an die Umgebung abfließt. Dabei erwärmen sich alle Schichten des Aufbaus auf unterschiedlich hohen Temperaturniveaus.

Moderne Halbleiter erreichen inzwischen Betriebstemperaturen von bis zu 175 °C, Kühlkörper sollen aber aus Gründen der Verbrennungsgefahr eine Temperatur von 85 °C nicht überschreiten. Flüssigkühler haben meist eine maximale Vorlauftemperatur von 65 °C. Da sich alle beteiligten Materialien bei Erwärmung unterschiedlich ausdehnen, entstehen zwischen den Schichten mechanische Belastungen in Form von Scherkräften. Es sind diese wiederkehrenden Belastungen, die schlussendlich zu einer Zerrüttung, der Delamination, des Aufbaus führen, wenn die Einwirkdauer lang genug ist.

Temperaturhub und Lastprofil

Besonders bei den Bonddrähten tritt ein weiterer Effekt auf. Ihre Enden sind fest mit den darunter liegenden Oberflächen verbunden, ihre Länge ändert sich aber bei Temperaturänderung. Wegen der geringen thermischen Kapazitäten findet diese Erwärmung bereits im Zeitbereich weniger Sekunden statt.

Durch die Längenausdehnung kommt es zu mikroskopischen Bewegungen und winzigen Winkeländerungen an den Montagestellen – der Draht wird permanent um ein kleines Stück verbogen. Gleichzeitig dehnt sich das Aluminium des Bonddrahtes anders aus als die kristalline Struktur des Chips; zwischen dem sogenannten Bond-Fuß und der Chip-Oberfläche entstehen mechanische Belastungen, die früher oder später zur Zerstörung der Verbindungsstelle führen.

Aus der Beschreibung der Fehlermechanismen ergibt sich sofort die Antwort auf die Frage nach der treibenden Größe: Es ist der Temperaturhub! Ein Leistungshalbleiter kann problemlos über extrem lange Zeiträume bei konstant hoher Temperatur funktionieren. Das gleiche Bauelement kann aber innerhalb kurzer Zeit versagen, wenn die Temperatur ständig um einen hohen Betrag schwankt.

Die letzte und wichtigste Frage, nämlich die nach der Lebensdauerprognose, lässt sich nicht so einfach beantworten. Sie ist der Frage ähnlich „Wie lange hält ein Auto?“. Es ist leicht einzusehen, dass ein Fahrzeug als Zweitwagen und einer gelegentlichen Verwendung problemlos zwanzig Jahre in Gebrauch sein kann, in der Verwendung als Taxi seine Lebensdauer aber leicht auf zwei bis vier Jahre begrenzt ist. Für den Gebrauch als Zugmaschine eines Pferdeanhängers eignet es sich vielleicht sogar überhaupt nicht.

Das Lastprofil ist entscheidend

Der Schlüssel zur Antwort auf die Lebensdauerfrage eines Leistungshalbleiters liegt, ebenso wie die zur Lebensdauer eines Autos, im Lastprofil der Applikation. Prinzipiell gibt es für jede elektrotechnische Applikation ein solches Lastprofil. Das kann eine Prognose solarer Strahlung zur Aufstellung einer Photovoltaikanlage sein oder das lokale Windprofil für den Bauplatz einer Windkraftanlage. Ebenso kommen Drehmomentverläufe an Werkzeugmaschinen, Fahrprofile von mobilen Applikationen oder Ladekennlinien für Batterien in Frage.

Im Idealfall existiert ein genau bekanntes, individuelles Profil. Häufiger finden sich aber generische Profile, die die Applikation in ihrer erwarteten typischen Verwendung beschreiben. Ein bekanntes Beispiel für ein solch allgemeines Profil stellen die Fahrzyklen dar, die der Bestimmung des Treibstoffbedarfes von Nutzfahrzeugen unterliegen.

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Der Kern der Vorgehensweise ist immer die Lösung einer linearen Gleichung, die sich ebenfalls aus Bild 1 ergibt. Gesucht ist immer die Chip-Temperatur Tvj. Dieser Wert ergibt sich aus der Verlustleistung und der Summe der thermischen Widerstände als Aufschlag auf die Umgebungstemperatur zu:

Tvj=Tamb+Pv•∑Rth

Unabhängig vom Lastprofil muss die Auswahl eines Halbleiters die Sperrspannung und gegebenenfalls mechanische Anforderungen berücksichtigen. Die Daten des Lastprofils lassen sich immer in ein Stromprofil übersetzen, das eine erste Auswahl eines Leistungshalbleiters ermöglicht.

Die Vorwärts-Rechnung zum Lastprofil

Mittels der elektrischen Parameter Strom und Spannung sowie der Charakteristik des ausgewählten Halbleiters lassen sich die zu erwartenden Verlustleistungen errechnen. Ist die Kühlung hinreichend genau bekannt oder wenigstens eine maximal zulässige Kühlkörpertemperatur, ergeben sich die Temperaturhübe am Chip. Der Prozess ist in Bild 2 grafisch dargestellt.

Bild 2: Vom Lastprofil zum Temperaturhub.
Bild 2: Vom Lastprofil zum Temperaturhub.
(Bild: Martin Schulz)

Für Technologieserien verfügen Halbleiterhersteller über Kurven, die die mögliche Anzahl von Zyklen und die zugehörigen Temperaturhübe korreliert. Für beispielsweise IXYS-IGBTs auf Basis von Löt-Bond-Technologie ist die Kurve entsprechend dem Verlauf in Bild 3 dargestellt.

Bild 3: Power-Cycling-Kurve für IXYS-IGBTs in Löt-Bond-Technologie.
Bild 3: Power-Cycling-Kurve für IXYS-IGBTs in Löt-Bond-Technologie.
(Bild: Martin Schulz)

Passen Lastprofil, Temperaturhub, Lebensdaueranforderung und Anzahl der Zyklen zusammen, dann ist die Auslegung geglückt. Ergibt sich eine zu geringe Lebensdauer können verschiedene Stellschrauben zum Einsatz kommen, um den Temperaturhub zu reduzieren:

  • Auswahl eines leistungsstärkeren Halbleiters im gleichen Gehäuse.
  • Auswahl einer Bauform mit geringerem thermischem Widerstand.
  • Verwendung eines Kühlkörpers mit besserer Wärmeableitung.
  • Wechsel von Luftkühlung zu Flüssigkühlung.
  • Reduktion der Schaltfrequenz.

Umgekehrt können diese Hebel auch helfen, wenn sich eine viel zu hohe Lebensdauer ergibt. Wenngleich eine sinnvolle Reserve zu begrüßen ist, kann eine sich ergebende viel zu hohe Lebensdauerprognose auch ein Zeichen sein für einen überdimensionierten und damit zu kostenintensiven Aufbau sein.

Die Rückwärts-Rechnung zum Lastprofil

Aus dem Lastprofil und der erwarteten Lebensdauer ergibt sich ein erster Eindruck, wie viele Lastzyklen der Halbleiter in der gegebenen Applikation zu überstehen hat. Mit der Kurve für zyklische Belastung N=f(ΔT) aus Bild 3 kann daraus eine Abschätzung des tolerierbaren Temperaturhubes erfolgen.

Bild 4: Vom Lastprofil zum Temperaturhub.
Bild 4: Vom Lastprofil zum Temperaturhub.
(Bild: Martin Schulz)

Bild 4 zeigt den Weg auf, wie man zunächst direkt vom Lastprofil zu einer Abschätzung des maximalen Temperaturhubes kommt. Der aus dem Diagramm resultierende Temperaturhub von 70 K erlaubt eine maximale Kühlkörpertemperatur von 55 °C, wenn für die Chiptemperatur ein Maximum von 125 °C gilt.

Die Auswahl eines geeigneten Halbleiters erfolgt dann auf Basis des thermischen Widerstandes und der Verlustleistung. Auch hier ist oft eine Iteration notwendig, um die optimal passende Komponente zu ermitteln oder in Verbindung mit einer Variation des Kühlkörpers das Ergebnis anzupassen.

Die im Bild 4 gezeigten Zusammenhänge führen bereits auf eine recht konservative Auslegung. Die angenommenen 50 Zyklen am Tag enthalten bereits eine komfortable Zugabe. Zudem stellt das gewählte Tagesprofil einen ungünstigen Fall dar, der an den meisten Tagen so nicht eintreten wird. Erlaubt es die Kostensituation, ist die konservative Auslegung zu bevorzugen.

Abschlussbemerkung: Die Lastwechsel-Festigkeit eines Leistungshalbleiters steht stets mit dem Temperaturhub in Wechselwirkung. Eine Steigerung dieser Fähigkeit geht mit einem Gewinn an Lebensdauer einher, wenn der Temperaturhub der gleiche bleibt. Umgekehrt erlaubt die höhere Power-Cycling-Festigkeit eine höhere Ausgangsleistung bei höherem Temperaturhub bei gleichbleibender Lebensdauer. Es hängt sehr von den Anforderungen der Applikation ab, welcher der Parameter von größerer Bedeutung ist.

Sie kommen in Ihrem Design nicht weiter? Dann beschreiben Sie das Problem und stellen Sie Ihre Frage an Dr. Martin Schulz, Global Principal Application Engineer bei Littelfuse Europe.

Entwicklerforum Leistungselektronik

Chips, Tipps und Tools für effiziente Leistungselektronikentwicklung

Entwicklerforum Leistungselektronik
(Bildquelle: VCG)

Am 18. Oktober 2022 wird in Würzburg erstmals das Entwicklerforum Leistungselektronik stattfinden. Den Eröffnungsvortrag hält Dr. Martin Schulz, Global Principal Application Engineer bei Littelfuse Europe. Das Entwicklerforum ist eine von insgesamt sechs Themenkonferenzen am 18. und 19. Oktober 2022 mit gemeinsamer Ausstellung rund um die Leistungselektronik. Der fachspezifische Kern betrifft alle Anwendungsfelder von Komponenten, Schaltungsentwurf, Anwendung, Energieerzeugung, Energietransport, Stromversorgung bis hin zur Antriebselektronik, E-Mobility und dem Power Management. Nutzen Sie den fachlichen Branchen-Austausch untereinander, diskutieren Sie die vorgestellten Best-Practice-Beispiele.

* * Dr. Martin Schulz ... ist Global Principal Application Engineer bei Littelfuse Europe.

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